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Vater-Sein in der Schweiz


Vater-Sein in der SchweizBild: ulyssos-photocase.de

Vereinbarkeit von Familie und Beruf - das ist in der Schweiz immer noch sehr schwierig, vor allem für Männer. Wer als Vater im Leben seiner Kinder präsent sein will, muss auf vieles verzichten: Um seine Tochter besser kennenzulernen, musste der Betriebsökonom Lukas Baumgartner* seinen Job aufgeben. Ein Portrait eines Schweizer Vaters.

Rollentausch, die erste


«Das Entrecote ist zu teuer», denkt er, klappt die Speisekarte wieder zusammen - und bestellt sich «das Sparmenü». Es ist dasselbe Konto, dieselbe Bankkarte, ja, sogar mehr oder weniger derselbe Kontostand wie noch vor drei Monaten. Etwas aber ist nicht mehr, wie es war: Seit zwei Monaten ist Lukas Baumgartner nicht mehr der Ernährer der Familie. Nun ist es seine Frau Kerstin, die Monat für Monat die 10.000 Franken auf das gemeinsame Konto einzahlt. Der Rollentausch mutet beiden seltsam an.

Doch beginnen wir mit dieser Geschichte aus dem Leben einer typischen jungen Schweizer Familie ganz von vorne: Bei der Geburt von Noemi. Es ist ihr erstes Kind. Lukas Baumgartner hatte nach dem Kaiserschnitt einige Tage frei, zog seiner Tochter erstmals Windeln an und kümmerte sich um seine Frau. Kind und Mutter erholten sich gut, die Gratulationen waren zahlreich. Beim Anziehen der Windeln war Baumgartner «etwas ungelenk» aber «happy». Bald ging er wieder arbeiten, so wie das fast alle jungen, gesunden Schweizer Väter eben tun. Als gelernter Betriebsökonom verdiente er bei einem internationalen Beratungskonzern einen guten Lohn. Allerdings musste er auch viel dafür arbeiten, in Spitzenzeiten rund 14, 15 Stunden am Tag, nicht selten auch am Wochenende. Als Noemi auf die Welt kam, war gerade einer dieser Spitzenzeiten. In den ersten Monaten nach seinem Kurzurlaub sah Baumgartner seine Tochter kaum. Kam er von der Arbeit nach Hause, schlief die Kleine meist schon.

"Ich will Zeit für meine Tochter haben!"


Baumgartner hatte sich auf seine Zeit als Vater gefreut. Klar: Er ist nicht der geborene Hausmann. Ebenso klar: Er arbeitet grundsätzlich gerne. Und ja klar, Lukas Baumgartner will Karriere machen. Aber: Nicht um jeden Preis. Dem jungen Businessmann war schnell klar, dass er zu wenig Zeit für seine Tochter hatte. Er hatte Angst, dass er sie nicht richtig kennenlernen würde, dass er sie irgendwie verpassen würde. Und so tat er, was viele andere Männer in der Schweiz nicht tun: Er kündigte seinen Job ohne einen neuen Anstellungsvertrag in der Tasche - und ging mit seiner Familie auf Reisen. Amerika. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Baumgartner verbrachte mit seiner Familie wunderschöne Momente. «Auf dieser Reise habe ich meine Tochter kennengelernt», wird er sich danach erinnern. Wieder zu Hause in der Schweiz, das Gepäck noch voller guter Erinnerungen, war es dann so weit: Baumgartner und seine Frau tauschten die Rolle. Beide wollten es so. Noch auf der Reise hatte Kerstin wieder erste Aufträge bekommen. Vor der Schwangerschaft war sie eine selbständige Grafikerin. «Finanziell müsste es also aufgehen», dachten die beiden. Und so kam es, dass Baumgartner nun auf einmal ganz alleine vor Noemis Kleiderschrank steht.

«Welcher Pulli? Welche Hose?» Seine Frau findet, Noemi sei speziell gekleidet. Baumgartner findet, Kerstin wisse alles besser. Der Wechsel ist ziemlich stressig. Für beide. Kerstin Baumgartner hat Mühe loszulassen. Sie hat Angst, dass sie bei Noemi außen vor bleibt. Und Baumgartner ist hie und da unsicher, vor allem vor dem Kleiderschrank. Auch ist es für ihn etwas seltsam, das erste Mal seit dem Teenageralter wieder von jemandem finanziell abhängig zu sein, er getraut sich nicht mehr das Entrecote zu bestellen, dass seine Frau nun für ihn verdienen muss. Doch die Dinge nehmen ihren Lauf.

Lob von den Nachbarn


Baumgartner geht mit Noemi auf den Spielplatz, bereitet Essen zu - und wechselt die Windeln immer gekonnter. Seine Frau akquiriert Kunden, layoutet Jahresberichte und schreibt Rechnungen - viele Rechnungen. Ihr Geschäft läuft richtig gut an. Beide kommen in ihrer Rolle an. Und so dauert es nicht lange, bis sich Baumgartner zu verändern beginnt. Er fühlt sich weniger ausgelaugt, sieht besser aus als vorher, seine Gesichtsfarbe ist gesünder. Zwar hat er mehr Kontakt mit Kerstins Kolleginnen als mit seinen Kumpels, aber wirklich stören tut ihn das nicht. Ist er mit Noemi auf der Strasse, nickt man den beiden zu. Die Frau an der Migros-Kasse grüßt die zwei von weitem. In ihrem Quartier kennt man sie bald. Plötzlich ist Baumgartner ein kleiner Rockstar.
«Was? Sogar das mit der Wäsche machst du selber?» Wechselt er Windeln, erhält Baumgartner Lob von Bekannten, von Männern wie Frauen. Baumgartners Mutter redet mit ihrem Sohn nun gerne über den Haushalt. Sie sieht sein Hausmanndasein als ein Abenteuer. Selbst von seinen ehemaligen Arbeitskollegen erhält Baumgartner Anerkennung. Er bekommt das Gefühl: «Die beneiden mich!» Nur sein Schwiegervater fragt ihn bei jedem Treffen, wann er wieder mit Arbeiten beginne. Die Monate ziehen ins Land. Baumgartner wird in den «Mama-Chat» aufgenommen. Seine Frau kann ihren Umsatz noch mehr steigern. Es ist nun klar, dass sie gut für die Familie sorgen kann. Kommt sie nach Hause, hat Baumgartner für sie gekocht. Und die Bindung zwischen Baumgartner und seiner Tochter, ja, die verändert sich auch, wird inniger. Die Kleine erfindet ständig neue Wörter - und Baumgartner versteht sie auf einmal. Fällt Noemi um, schreit sie jetzt nach «Papi!». Alles ist gut. Alles läuft wunderbar. Einige Monate später sucht sich Baumgartner wieder einen Job. Die Selbständigkeit sei auf Dauer ein grösseres Risiko als seine Festanstellung, hört man die beiden sagen. Zwar verdient Kerstin recht gutes Geld mit dem Grafikdesign, doch wer weiß, ob das für immer so sein würde. Es könnte mal ändern. Auftragseingänge können variieren, Löhne nicht. Und sowieso: Kerstin zweifelt daran, dass ihr der Job in Vollzeit ewig Freude bereiten würde.

Rollentausch, die zweite


Und Baumgartner? Ein bisschen vermisst der Karrieremann eine berufliche Herausforderung. Auch macht ihm die wachsende Lücke in seinem Lebenslauf zuweilen etwas Sorge. Würde er noch einen Job finden, in einem Jahr, in zwei? Auch die entgangenen Pensionskassengelder fehlen der Familie sicher mal. Die beiden sind sich einig: «Es ist sinnvoll, wenn wir wieder wechseln.» Der erste Arbeitstag an seiner neuen Stelle ist für Baumgartner «einfach nur schlimm». Seine Arbeitskollegen sind zwar nett, doch Baumgartner muss immer wieder an seine Noemi, an seine Kerstin denken. Pendenzen. Sitzungen. Projekte. Erst nach drei Wochen vergeht es etwas, das Gefühl, fehl am Platz zu sein.

Manchmal nur noch fragt sich Baumgartner, ob es das sein könne, diese Art zu arbeiten. Manchmal fragt er sich auch, ob er den richtigen Job habe. Das aber, sagt er, sei ein anderes Thema. Verlässt er am Abend seine Arbeit, freut er sich auf seine Familie. Um seinen Kopf zu leeren, dreht er auf dem Nachhauseweg manchmal mit dem Tram eine Extrarunde durch Zürich. Den Arbeitsstress will er nicht nach Hause tragen. Er will die wenigen gemeinsamen Stunden geniessen. Baumgartner findet es schade, dass er Noemis neusten Wortschöpfungen nicht mehr versteht. Im September bekommen Kerstin und Lukas Baumgartner ihr zweites Kind. «Mal sehen», sagen sie, «wie wir das dann lösen.»

Adrian Soller

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