Liebeserklärung an den Vater
Bild: Peter Heller
Arno Geiger ist zurzeit einer der bedeutendsten und erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftsteller. In seinem autobiographischen Bericht "Der alte König in seinem Exil" beschreibt er, wie die Alzheimer-Krankheit von seinem Vater Besitz ergreift und wie der Sohn und die Familie damit zu leben lernen.
Ihr Buch "Der alte König in seinem Exil" ist ein ungeheurer Erfolg. Dabei ist ein Buch über die Alzheimer-Krankheit ja nicht gerade für einen Bestseller prädestiniert. Wie erklären Sie sich dieses große Interesse?
Das Buch ist auch bei der Kritik sehr gut angekommen. Literarische Qualität und ein gesellschaftlich relevantes Thema finden hier zusammen. Außerdem ist das Buch keine Abrechnung, wie das oft der Fall ist, wenn Söhne über ihre Väter schreiben. Ich versuche, dem Vater Zuneigung und Respekt entgegenzubringen, auch während seiner Alzheimer-Erkrankung.
In einigen Ihrer Bücher haben Sie sich bereits mit der Vätergeneration auseinandergesetzt. Warum jetzt auf diese autobiographische und persönliche Weise?
Das hat sich aus dem Leben ergeben. Ich habe mir das nicht ausgesucht und hätte es mir auch nie gewünscht, dass mein Vater von einer Demenzerkrankung betroffen ist. Es hat eine zeitlang mein Denken beeinflusst. Ich hätte vorher nie gedacht, wie einschneidend das ist, was mit meinem Vater passiert, und wie das seine Angehörigen direkt und indirekt beeinflusst. Und für einen Schriftsteller ist es naheliegend, über das zu schreiben, was einen beschäftigt und was einem am Wichtigsten ist.
Das Buch ist auch bei der Kritik sehr gut angekommen. Literarische Qualität und ein gesellschaftlich relevantes Thema finden hier zusammen. Außerdem ist das Buch keine Abrechnung, wie das oft der Fall ist, wenn Söhne über ihre Väter schreiben. Ich versuche, dem Vater Zuneigung und Respekt entgegenzubringen, auch während seiner Alzheimer-Erkrankung.
In einigen Ihrer Bücher haben Sie sich bereits mit der Vätergeneration auseinandergesetzt. Warum jetzt auf diese autobiographische und persönliche Weise?
Das hat sich aus dem Leben ergeben. Ich habe mir das nicht ausgesucht und hätte es mir auch nie gewünscht, dass mein Vater von einer Demenzerkrankung betroffen ist. Es hat eine zeitlang mein Denken beeinflusst. Ich hätte vorher nie gedacht, wie einschneidend das ist, was mit meinem Vater passiert, und wie das seine Angehörigen direkt und indirekt beeinflusst. Und für einen Schriftsteller ist es naheliegend, über das zu schreiben, was einen beschäftigt und was einem am Wichtigsten ist.
Die Liebe wiederfinden
Sie schreiben, dass in der Pubertät und Adoleszenzzeit Sie nichts mit ihrem Vater verbunden hätte. Wie hat sich diese Liebe zu ihm, die aus jeder Zeile Ihres Buches spricht, wieder eingestellt?
Damals hatte ich gedacht, dass uns wenig verbindet. Es war ein alterstypischer Versuch, sich abzugrenzen und seinen Platz in der Welt zu finden. Aber das Fundament, das in der Kindheit gelegt worden war, hat gehalten. Aus diesem Reservoir konnten wir ganz selbstverständlich wieder schöpfen, als es nötig wurde. Das hat mich überrascht, denn ich war mir nicht bewusst, dass es dieses Fundament gibt.
Das Leben Ihres Vaters war, wie bei den meisten Menschen seiner Generation, von der Nazi-Zeit, vom Krieg, von Entbehrungen und Leid geprägt. Wie wirkt das im Sohn nach?
Viele Haltungen und Prägungen nimmt man "mit der Muttermilch" auf. Bei uns wurde ein starkes Sicherheitsdenken von den Eltern ganz selbstverständlich im Alltag an die Kinder weitergegeben. Ein Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit hat das Leben meiner Eltern geprägt, besonders das meines Vaters, das war die Essenz seiner Erfahrungen im Krieg.
Kinder unserer Generation sind nicht sehr krisenerprobt. In unserer Biografie kommen Krisen höchstens im persönlichen Bereich vor, Trennung und Scheidung oder man bekommt einen Job nicht. Unsere Eltern dagegen haben in jungen Jahren erfahren, welche Macht die äußeren Umstände besitzen. Indirekt profitieren wir von diesen Erfahrungen, ohne es zu merken. In unserem Dorf sagt man "man erbt nicht nur Grundstücke". Man erbt von den Vorfahren die Sprache, Moral, auch Kulturformen. Um nur ein Detail herauszunehmen: Wie wir das Besteck halten, das haben wir von unseren Vorfahren übernommen. Und jedes Wort, das wir sprechen, hat eine Bedeutung. Aber in den seltensten Fällen sind wir es, die dem Wort diese Bedeutung gegeben haben. Doch wir benutzen diese Wörter wie wir die Straßen benutzen, die die Römer schon angelegt haben.
Vaterstolz und Sohnesstolz
Sie schreiben, Ihr Vater machte eine gute Figur in der Vaterrolle...
Er war unglaublich gerne Vater. Wir vier Kinder wurden innerhalb von sechs Jahren geboren, also relativ kurz hintereinander. Mit uns war er völlig in seinem Element. Er war ein unbeschwerter, fröhlicher Mensch. Wir konnten alles von ihm haben. Er hat viel für uns gebastelt und gebaut, immer versucht, uns eine Freude zu machen. Er war jeden Tag zu Hause: Dazu gehörte das Haus, seine eigene Familie, seine Kinder. Aber auch die größere Familie - vier seiner Geschwister, auch mit jeweils mindestens vier Kindern, wohnten in der Nachbarschaft. Er ist fast nie aus dem Dorf herausgekommen, das wollte er nicht mehr nach den Kriegserfahrungen. Er hat keine Freunde gebraucht, er hat keine Welt gebraucht. Die Familie hat sein Leben bedeutet.
Er hat viel für Sie gemacht, was hat er mit Ihnen zusammen gemacht?
Wir haben ihn jeden Tag am Kirchplatz erwartet, wenn er mit dem Fahrrad von der Arbeit nach Hause gekommen ist. Dann hat er ein Kind auf den Gepäckträger gesetzt, eins auf die Stange, eins aufs Lenkrad und hat uns zum Mittagessen die recht steile Straße nach oben geschoben. Nach dem Essen haben wir Karten gespielt, dann fuhr er wieder zur Arbeit.
Sie schreiben, dass der Sohn stolz war auf den Vater. Worauf besonders?
Meine ganze Kindheit war ich stolz, sein Sohn zu sein. Der Vater war groß, stark, unabhängig, ein geachteter und geschätzter Mensch. Er war Amtsleiter in seinem Heimatdorf seit Anfang der 50er Jahre. Ich hatte immer den Eindruck, dass er alles kann. Wir hatten Nebenerwerbslandwirtschaft; im bäuerlichen Bereich, auch im Haus und am Haus hat er immer alles selber gemacht, alle Anbauten und Reparaturen. Auch in seinem Beruf war er mit allem Wissen versehen aufgrund der Tatsache, dass er schon mit Mitte 20 Amtsleiter wurde. Wenn jemand etwas wissen wollte, kam er zu meinem Vater. Er wusste, was das Dorf betraf, mehr oder weniger alles. Es war schön, einen so beliebten Vater zu haben.
War der Vater auch stolz auf den Sohn?
Stolz - ich würde sagen, er hat uns Kinder geliebt.
Die Würde des Vaters
Mehr Glück in die Welt bringen
Was haben Sie übernommen von ihm, was Sie selbst weitergeben wollen?
Ich schätze manches an der Haltung meines Vaters sehr, seine Gelassenheit, seine Unaufgeregtheit, seine Menschenfreundlichkeit. Damit verkörpert er für mich nicht zur Diskussion stehende Werte unserer Gesellschaft. Ich bemühe mich auch, ein Leben zu leben, das mehr Glück in die Welt bringt als Leid. Und das ist manchmal gar nicht so einfach.
Sie schreiben, Alzheimer ist ein Lehrstück für Kinder und Enkel. Was sollten wir davon lernen?
Die Erkrankung meines Vaters ist schrecklich. Für seine Kinder und Enkel ist sie insofern ein Lehrstück, als die Krankheit meinen Geschwistern und mir vor Augen führt, wie zerbrechlich wir sind. Wir als Menschen - aber auch, wie zerbrechlich soziale Beziehungen sind. Unsere Gesellschaft nimmt das Junge und Produktive als Norm, das Alte und nicht mehr so Produktive wird als Abweichung von der Norm gesehen. Ich habe gelernt, dass sich im Alter bestimmte Werte realisieren, die sich nur dort realisieren können. Dazu gehört es, befreit zu sein aus der Leistungsgesellschaft, befreit zu sein davon, etwas erreichen zu wollen. Ich bin oft beeindruckt von der Direktheit und Aufrichtigkeit alter Menschen. Wir sind oft sehr vorsichtig in sozialen Beziehungen und fragen uns, ob eine Äußerung uns schaden könnte. In dieser Hinsicht haben alte Menschen nichts mehr zu verlieren und sind uns ein Stück voraus.
Wo waren Ihre Kraftquellen in der Zeit, als Sie mit Ihrem kranken Vater in einem Haus lebten?
Vor allem habe ich Kraft aus dem Miteinander geschöpft. Wir vier Kinder haben uns immer gegenseitig geholfen, aber auch unsere Mutter hat uns sehr unterstützt, obwohl meine Eltern getrennt sind. Die teilweise massiven Belastungen konnten auf mehrere Schultern verteilt werden. So sind wir als Familie wieder enger zusammengewachsen. Dieses Bewusstsein, dass man sich auf die Geschwister und die Mutter verlassen kann, ist ein gewisser indirekter Mehrwert der Krankheit.
Mir war immer bewusst, dass ich mein eigenes Leben weiterleben muss, und zwar auch im Interesse des Ganzen. Um einigermaßen entspannt zu sein muss ich glücklich sein, muss ich meine Liebesbeziehung gestalten können. Sonst habe ich das Gefühl, ich stolpere von einer Vernachlässigung in die andere, sowohl beim Vater als auch bei meiner Lebensgefährtin, bei meinen Freunden und bei der Arbeit. An dieser Stelle werden die meisten Fehler gemacht: Ein falsches Sich-Aufopfern in dem Glauben, dass das sein muss. Mein Vater spürt immer, wenn es mir gut geht; dann kann es auch ihm gut gehen, dann ist er entspannter. Wenn lauter gestresste und unzufriedene Menschen um ihn sind, steigert das das Gefühl von Fremdheit und Irritation, das die Krankheit erzeugt.
Die Erkrankung meines Vaters ist schrecklich. Für seine Kinder und Enkel ist sie insofern ein Lehrstück, als die Krankheit meinen Geschwistern und mir vor Augen führt, wie zerbrechlich wir sind. Wir als Menschen - aber auch, wie zerbrechlich soziale Beziehungen sind. Unsere Gesellschaft nimmt das Junge und Produktive als Norm, das Alte und nicht mehr so Produktive wird als Abweichung von der Norm gesehen. Ich habe gelernt, dass sich im Alter bestimmte Werte realisieren, die sich nur dort realisieren können. Dazu gehört es, befreit zu sein aus der Leistungsgesellschaft, befreit zu sein davon, etwas erreichen zu wollen. Ich bin oft beeindruckt von der Direktheit und Aufrichtigkeit alter Menschen. Wir sind oft sehr vorsichtig in sozialen Beziehungen und fragen uns, ob eine Äußerung uns schaden könnte. In dieser Hinsicht haben alte Menschen nichts mehr zu verlieren und sind uns ein Stück voraus.
Wo waren Ihre Kraftquellen in der Zeit, als Sie mit Ihrem kranken Vater in einem Haus lebten?
Vor allem habe ich Kraft aus dem Miteinander geschöpft. Wir vier Kinder haben uns immer gegenseitig geholfen, aber auch unsere Mutter hat uns sehr unterstützt, obwohl meine Eltern getrennt sind. Die teilweise massiven Belastungen konnten auf mehrere Schultern verteilt werden. So sind wir als Familie wieder enger zusammengewachsen. Dieses Bewusstsein, dass man sich auf die Geschwister und die Mutter verlassen kann, ist ein gewisser indirekter Mehrwert der Krankheit.
Mir war immer bewusst, dass ich mein eigenes Leben weiterleben muss, und zwar auch im Interesse des Ganzen. Um einigermaßen entspannt zu sein muss ich glücklich sein, muss ich meine Liebesbeziehung gestalten können. Sonst habe ich das Gefühl, ich stolpere von einer Vernachlässigung in die andere, sowohl beim Vater als auch bei meiner Lebensgefährtin, bei meinen Freunden und bei der Arbeit. An dieser Stelle werden die meisten Fehler gemacht: Ein falsches Sich-Aufopfern in dem Glauben, dass das sein muss. Mein Vater spürt immer, wenn es mir gut geht; dann kann es auch ihm gut gehen, dann ist er entspannter. Wenn lauter gestresste und unzufriedene Menschen um ihn sind, steigert das das Gefühl von Fremdheit und Irritation, das die Krankheit erzeugt.
Die Würde des Vaters
Zum Schluss noch einmal zum Titel "Der alte König in seinem Exil". Das Exil ist die Krankheit - was ist königlich am Vater?
Väter haben etwas Magisches für Kinder. Kinder machen sich ungeheuer großartige Bilder vom Vater. Er ist groß, stark, weiß alles, kann alles, ist immer für sie da - wie ein guter König. Er hat eine Ausstrahlung, er hat eine Würde.
Mein Vater wurde demenzkrank. Den Titel habe ich bewusst gewählt um zu zeigen, auch dieser Mensch hat eine Aura, und es kann nicht sein, dass er diese Aura und dieses Mensch-Sein verliert aufgrund einer Krankheit. So gut ich kann versuche ich als Sohn, die Krankheit als gegeben hinzunehmen. Ich kann sie nicht ändern. Aber ich kann das Besondere an meinem Vater, das noch vorhanden ist, sehen. Und da ist genug da. Es gibt auch viele Verluste. Aber mit den Verlusten ist nichts anzufangen, nur mit dem Vorhandenen. Das ist für mich Teil der Liebeserklärung an meinen Vater.
In ihrem Roman "Zum Leuchtturm" hat Virginia Woolf den Protagonisten, Professor Ramsey, ihrem Vater nachgebildet. An einer Stelle geht er durch den Garten und da wird von ihm gesagt: "wie ein König im Exil". Und zwar sehr liebevoll gesagt. Ich wusste sofort, das hat etwas mit dem Gefühl zu tun, das ich meinem Vater entgegenbringe. Der auch oft ein geliebter, aber schwer zu erreichender Vater war.
Vom Thron stoßen muss man den König also nicht?
Nein, gar nicht. Wir hoffen alle, dass er uns noch lange erhalten bleibt.
Mit Arno Geiger sprach Ralf Ruhl am Rande einer Lesung des Literarischen Zentrums Göttingen