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"Das Leben in seiner ganzen Wucht" - Eine Hausgeburt


Vor sechseinhalb Jahren wurde unsere Tochter geboren - in dem Raum, der jetzt ihr Kinderzimmer ist. Doch nun steht die Geburt unseres Sohnes bevor, der errechnete Termin ist in drei Wochen. Wir können es kaum erwarten - obwohl wir doch schon Routine in Sachen Elternschaft haben. Von hinten kann man kaum erkennen, dass Linda schwanger ist: Der Bauch dehnt sich fast nur nach vorne aus.

20. August

Am Abend besucht uns die Hebamme, die bei der Geburt dabei sein wird. Wir kennen Petra gut von der Nachsorge bei Kira. Wir reden über das, was auf uns zu kommen wird, über bekannte und über vergessene Dinge. Die Stimmung ist sehr herzlich. Auch Hebammenschülerin Sophia ist dabei, zu ihr entwickelt sich ein ebenso herzliches Verhältnis. Auch sie wird die Geburt begleiten. Seit einigen Tagen treten gegen Abend häufiger Vorwehen auf. Das müsse nicht heißen, dass die Geburt bevorstehe, sagt Petra, das könne noch vier Wochen dauern. Hui, lange Zeit, denke ich mir.

21. August

Heute ist es so weit: Lindas kugelrunder Bauch wird in Gips gegossen. Er soll später neben dem anderen, sechseinhalb Jahre älteren Abdruck hängen. Die Gipsbinden sind besorgt, Kira, Linda und ich sind in Bastelstimmung. Kira und ich legen die Gipsbinden von beiden Seiten an, wir haben viel Spaß dabei. Am späteren Abend bekommt Linda mehrere Vorwehen in 15-minütigen Abständen. Ich bin aufgeregt, glaube aber nicht, dass es schon losgeht. Später nimmt sie ein Bad, die Wehen hören auf.

22. August

Lindas Tag war sehr anstrengend: Ständige Vorwehen, sodass Einkäufe und Small-Talk mit anderen schwer fielen. Gegen 21.30 Uhr kommen Wehen in 20- und 15-minütigen Abständen. Linda schaut mich an: "Ich glaube, es geht los." Ich freue mich, bin aufgeregt, kann es aber noch nicht glauben. Schließlich sind es ja noch14 Tage bis zum errechneten Termin. Sie fragt mich, ob wir schon mal bei den Nachbarn anrufen sollen. Sie hatten angeboten, Kira während der Geburt zu versorgen. Ich denke, es ist noch zu früh. Gegen 22.30 Uhr läuft Linda ins Bad. Klares Wasser läuft am Bein hinunter. Unsicher lächelnd schauen wir uns an. Die Fruchtblase sei geplatzt, meint Linda. Nachdem sie mit der Hebamme telefoniert hat, bin ich fast überzeugt, dass die Geburt bald bevorsteht. Also wird jetzt doch bei den Nachbarn angerufen. Ich packe die Sachen zusammen, wickele die schlafende Kira in eine Decke und trage sie zum Auto. Kira wacht kurz auf und schaut mich fragend an. "Dein Brüderchen macht sich auf den Weg", erkläre ich ihr. Daraufhin strahlt mich meine Tochter mit einem so innigen Lächeln an, dass mir das Herz aufgeht. Auf dem kurzen Heimweg überfällt mich die Erkenntnis: In 24 Stunden sind wir zu viert. Unglaublich!

23. August

Gegen 0.00 Uhr: Linda und ich sind aufgeregt. Werden wir Schlaf bekommen? Den brauchen wir, das wissen wir aus Erfahrung. Trotz aller Aufregung habe ich ein ganz sicheres Gefühl. Als wir uns schlafen legen, sind die Abstände zwischen den Wehen durchschnittlich 10 Minuten. Wir schlafen immer wieder ein und notieren die Wehenzeiten.

Gegen 5 Uhr weckt mich Linda. Die Wehen kommen jetzt bereits in Abständen von 5 Minuten. Ich stehe freudig erregt auf und bin froh, dass ich ausreichend Schlaf bekommen habe. Ich bin bereit für das große Abenteuer. Nachdem wir aufgestanden sind, ruft Linda bei Petra an und teilt ihr die verkürzten Wehenabstände mit. In einer Stunde wird sie bei uns sein - das beruhigt.

Ich denke an Kiras Geburt - doch vieles verschwimmt. Ich bin viel zu aufgeregt, um in Ruhe Gedanken zu sortieren. Ich gehe erst mal in die Küche und esse etwas. Linda ist guter Stimmung und nimmt ein Bad. Danach beginnt eine surrealistische Zeit. Ich laufe mit Linda durch die Wohnung, wir unterhalten uns über ganz alltägliche Dinge. Zwischendurch verarbeitet Linda ihre Wehen im Sitzen oder im Stehen. Ich versuche, ganz nah bei ihr zu sein, biete meine Hand an oder lege meinen Arm um sie.

Gegen 6.30 Uhr ist trotz der Wehen die Stimmung wunderbar, wir lachen viel. Petra trifft ein. Wir umarmen uns und untermauern die Bereitschaft zum Abenteuer Geburt. Mit Spannung erwarten Linda und ich das Ergebnis der kleinen Untersuchung: Ist alles normal? Liegt der Kleine richtig? Sind die Herztöne OK? Alles in bester Ordnung! Der Muttermund ist jedoch erst drei Zentimeter geöffnet. Linda kann das kaum glauben, hat sie doch schon unzählige Wehen verarbeitet, die auch heftiger sind als bei der ersten Geburt. Petra fährt noch einmal in ihre Praxis und will in zwei Stunden wiederkommen. Machen wir uns bis dahin eine schöne Zeit, denken wir. Wir können ja einen Film anschauen. Doch die Wehen werden heftiger.

Der Film lief höchstens 10 Minuten. Seitdem kann von einer entspannten Atmosphäre nicht mehr die Rede sein. Die Wehenabstände reduzieren sich auf drei oder zwei Minuten. Nun geht es darum, Linda beizustehen, wenn sie die Wehen verarbeitet. Mehrmals fragt Linda, wann Petra zusammen wieder da ist. Ich beruhige sie und sage, dass es bald soweit sei. Die Wehen werden intensiver und schmerzhafter, die Erholungsphasen kürzer. Wir reden nur noch ab und zu miteinander, die kurzen Ruhephasen sind für Linda sehr wichtig. Auch ich wünsche mir, dass der Support bald eintrifft.
Gegen 9 Uhr. Petra trifft bei uns ein. Sie hat Sophia mitgebracht. Sie unterstützt uns vor allem Praktisch: Bereits nach kurzer Zeit weiß sie genau, wo Tücher und Laken lagern. Linda hat mit ihren Wehen zu tun und nimmt andere Vorgänge kaum wahr. Petra kümmert sich um Linda, spricht ihr gut zu, gibt Tipps. Währenddessen versuche ich, Linda so nah wie möglich zu sein, Schmerz aufzufangen - wie vor sechseinhalb Jahren. Diesmal fühle ich mich sicherer und glaube fest daran, dass alles gut wird. Ich sitze auf der Couch, neben mir kniet Linda auf dem Boden, mit dem Oberkörper angelehnt. Während den Wehen versuche ich, Linda beizustehen. Ich streiche ihr den Rücken und motiviere sie. In den Pausen ist Stille, höchstens ein Flüstern kommt über Petras Lippen. Oftmals schläft Linda vor Erschöpfung ein. Ich bewege mich in zeitlosen Dimensionen. Alles ist real, aber gleichzeitig auch nicht. Wir sind zusammen und werden ein kleines Wunder miterleben.

Gegen 10 Uhr: Linda kniet vor mir, Arme und Kopf liegen auf meinen Oberschenkeln. Die Ruhephasen sind nur noch ganz kurz. Zu gern würde ich ihr einen Teil des Schmerzes abnehmen, denn dieser ist gewaltig. Ich frage mich, wie oft Hebammen in ihrer beruflichen Laufbahn den Satz "Ich kann nicht mehr!" hören. . Draußen scheint die Sonne, aber ich habe den Bezug zur Zeit verloren. Der Moment ist das einzige, was wichtig ist. Eine Geburt gehört zu den natürlichsten Prozessen überhaupt und trotzdem ist sie immer wieder besonders, einmalig und eindrucksvoll. Das Leben mit seiner ganzen Wucht und Faszination. Linda darf jetzt endlich pressen. In den kommenden fünf Minuten geschieht mehr als gedacht. Erst meldet Petra: "Das Köpfchen ist zu sehen!" Kurz darauf ist es draußen. Und auf einmal ist er geboren. Unser Sohnemann. Das Emotionen-Karussell nimmt nochmals richtig Fahrt auf: Freudentränen, Bewunderung, Dankbarkeit, lachen, staunen.

Unglaublich, da liegt ein neuer Erdenbürger, so zart, so hilflos. Ich denke mir: Ich kenne Dich noch nicht lange, aber ich weiß jetzt schon, dass ich dich für immer lieben werde.

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